Die Schwiegermuttertour – 160 km bis zum Ziel
Mit dem Auto sind es von Recklinghausen bis Bad Driburg rund 150 km. Erfahrungsgemäß sind es dann mit dem Rad immer ein paar Kilometer mehr. Fehlende Infrastruktur und so. Aber ich nahm die Herausforderung an und setzte mich an meinen Rechner, um bei GPSies.com die Strecke zu planen. Über 100 km mit dem Mountainbike? Das habe ich schon ein paar Mal gemacht. Das ist immer eine spannende Sache. Mein bis dato längste Tour ging über rund 120 km. Aber nochmal eine Schüppe mehr? Warum eigentlich nicht?
Die Planungen zeigten ein interessantes Bild. 152 km Distanz und 1171 aufzusteigende Höhenmeter, laut GPSies.com. Ich war überrascht. Ich hatte mit mehr Kilometern gerechnet. Und 1171 HM auf die Distanz gesehen? Das war auch vertretbar. Vielleicht hätte ich aber dem große Ausschlag, im Höhenprofil bei GPSies, etwas mehr Aufmerksamkeit widmen sollen. Oder es hätte mich misstrauisch machen sollen. Heute bin ich da schlauer. Egal, Strecke gespeichert, heruntergeladen und auf den Garmin gezogen. Ich war bereit. Grundsätzlich, irgendwie.
Am Abend des 4 Juni packte ich also meinen Rucksack. Proviant, Wasser, Werkzeug, Stativ, Ersatzschlauch und den iPod. Halt all die Dinge, die man für so eine Tour brauchen könnte. Dann ging es ins Bett und früh am Morgen, des 5. Juni, ging es dann schon zeitig los. 7 Uhr wollte ich starten, 7:06 drückte ich am Garmin auf Start.
Zunächst ging es in Richtung Emscher, denn mein Plan sah vor, möglichst lang an Kanälen oder Flüssen entlang zu fahren. Das hat den Vorteil, dass man meistens gut befestigte Radwege vorfindet und wenig Steigung oder Gefälle zu bewältigen hat. An der Emscher angekommen, ging es dann bis zum Rhein-Herne-Kanal und am selbigen ging es dann noch weiter hoch, bis zum Schiffshebewerk Henrichenburg. Bisher alles kein Problem und alles bekannt. Ist ja eine alte Feierabendrunde von mir. Am Schiffshebewerk wechselte ich dann den Kanal. Vom Rhein-Herne rüber zum Dortmund-Ems-Kanal.
Hier blieb ich nur ein paar Kilometer, denn ich musste irgendwie rüber zum Datteln-Hamm Kanal. Der Weg dort lässt sich ebenfalls sehr gut fahren. Wie ich schon sagte, alles gut befestigt und mit angenehmem Flow. Das Wetter spielte mir auch in die Karten. Durchschnittlich 19 °C und ein leichter Rückenwind machten die Tour durchaus erträglich. Auch so lief es recht gut. Im Durchschnitt konnte ich einen 21ger Schnitt fahren.
In Hamm musste ich dann ein Stück durch die Stadt fahren. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass es sehr angenehm ist, in Hamm durch die Stadt zu fahren. Die Stadt ist nicht zu Unrecht die fahrradfreundlichste Stadt nach Münster. Das bestätigt auch der ADFC. Ich überquerte den Datteln-Hamm Kanal erneut und wollte wieder zurück an den Kanal. Irgendwie habe ich mich dabei etwas verhaspelt. Denn ich fand mich plötzlich auf einer kleinen Offroad-Passage wieder, mit der ich so nicht wirklich gerechnet hatte. Weiß der Schinder, was ich mir da bei der Planung gedacht habe.
Ich stellte nämlich relativ schnell fest, dass eine 150 km Tour nicht unbedingt für solche Sperenzchen geeignet ist. Mit Schlamm auf dem Trikot kehrte ich schließlich wieder auf die eigentliche Strecke zurück, nur wenige hundert Meter von dem Punkt entfernt, an dem ich den Kanal überquert und die schnellste Strecke verlassen hatte. Dumm ist der, der Dummes tut.
Zwischen Bünninghausen und Lippetal hatte ich dann die 75 km Marke geknackt. Ich hatte jetzt 3 Stunden und 37 Minuten auf dem Sattel gesessen und es wurde auch mal Zeit für einen kleinen Snack. Ich stoppte in einem kleinen Haltestellenhäuschen und fand schnell Gefallen an der Ruhe um mich herum. Nix los hier, um die Uhrzeit. Frisch gestärkt ging es aber schon nach wenigen Minuten wieder weiter. Ich hatte jetzt ungefähr die Hälfte der Strecke absolviert. Ich wunderte mich jedoch, dass meine Höhenmeter proportional zur bereits gefahrenen Strecke eher gering ausvielen. Ich machte mir schon ein wenig Sorgen, denn ich hatte ja irgendwas mit 1100 HM im Kopf und hatte jetzt vielleicht um die 50 HM auf dem Tacho. Na ja, vielleicht ergibt sich da in den nächsten Kilometern etwas.
Ja, meine Befürchtungen sollten nicht unbegründet sein. Kurz vor Lippstadt zog die Steigung etwas an. Nicht extrem, aber spürbar. Ich wusste, dass ich vor meinem Ziel auf jeden Fall noch einen Berg bezwingen musste. Die 1100 HM sollten ja irgendwo herkommen. Langsam kam mir die Idee, dass der zu bezwingende Berg vielleicht ein echter Klopper sein könnte. Denn obwohl meine Restdistanz immer weniger wurde, meine Höhenmeter wurden nicht deutlich mehr. Das könnte ja noch spannend werden.
Nach 133 Kilometern erreichte ich dann Paderborn. Hier machte ich eine Entdeckung, die mich überraschte. Obwohl ich ein ausgesprochener Freund von erneuerbaren Energien bin, habe ich hier zum ersten Mal gesehen, wie Windräder eine Landschaft zerstören können. Gefühlt hunderte Windräder erstrecken sich auf einer schier nicht enden wollenden Fläche. Im Nachgang habe ich das Thema mal recherchiert und dazu folgende Geschichte bei Wikipedia gefunden:
“Mit den Planungen wurde 1995 begonnen. Im April 1997 begann man mit den Bauarbeiten, im Dezember 1997 produzierten die ersten Anlagen Strom und im Mai 1998 wurden die letzten Arbeiten vollendet. Der Windpark erstreckt sich über eine Fläche von 380 Hektar, davon entfallen 2,3 ha auf Bauwerke oder befestigte Wege. Die Anlagen des Parks erzeugen pro Jahr etwa 65 Mio. Kilowattstunden elektrischer Energie, was einer durchschnittlichen Leistung von 7,4 MW entspricht. Die Bauarbeiten wurden zu etwa 25 Prozent von örtlichen Unternehmen ausgeführt. 66 Prozent der Windenergieanlagen befinden sich im Eigentum örtlicher Bürger. Der Windpark wurde zu Teilen durch das Land Nordrhein-Westfalen gefördert.”
Mit diesem Hintergrundwissen macht das ganze dann schon wieder mehr Sinn. Die Leute sind quasi selber dafür verantwortlich, wie die Landschaft verändert wird. Auf der anderen Seite gesehen, einer muss es ja machen und ich bin eigentlich ganz weit weg von der „Windkraft? Ja gerne! Aber NICHT in meinem Garten!“ Meinung. Mal hier und mal da ein Windrad, das geht wohl klar. Aber so viele. Junge, Junge… Das hat mich wirklich beeindruckt / schockiert.
Bei Kilometer 140 fuhr ich dann auf eine Gruppe E-Bike Rentner auf. Ich fuhr nach und nach an den einzelnen Teilnehmern vorbei, reihte mich dabei immer wieder in vorhandene Lücken ein, um den Gegenverkehr nicht zu blockieren. Die Herren waren stielecht, mit einheitlichen Trikots und passenden Mützen, auf ihren E-Bikes unterwegs. Ganz gemütlich, um die 20 km/h. Mit einem der Herren kam ich ins Plaudern:
„Jungchen, wohin so eilig?“ – „Bad Driburg, ist das noch weit?“ – „Da hast du dir aber noch ne ordentliche Strecke vorgenommen, Junge!“
Junge, Jungchen? So hat mich ja ewig keiner mehr genannt. Aber gut, im direkten Vergleich? Ich hätte mit 37 auch schon sein Sohn sein können. Also danke dafür.
„Wo bist du denn gestartet?“ – „Recklinghausen!“ – „WAS? RECKLINGHAUSEN?!“ – „Jo, 140 km bisher, Schwiegermutter besuchen!“ – „Muss ja ne nette Schwiegermutter sein!“ – „Jo! Sie macht eine fantastische Buttercreme-Torte!“ – „AAAAH! VERSTEHE! GUTE FAHRT JUNGE!“
Ich erwiderte die Wünsche und schon trennten sich unsere Wege wieder.
Kurz danach hatte ich die erste Spitze im Höhenprofil gemeistert. OK, dachte ich mir, das ging ja noch. Doch danach schoss das grüne Diagramm meines Garmin-Höhenprofils so hart nach oben, dass mein Display nur noch grün war. Ich ahnte Böses. Sollte ich jetzt, auf den vermeintlich letzten 7 Kilometern noch über 800 HM fahren müssen?! Das wäre ja mal mehr als heftig! Denn mittlerweile machte sich die Distanz auch selbstverständlich bei meiner Kondition bemerkbar.
Ich hatte meine Vorräte mittlerweile an einer Tankstelle wieder aufgefüllt, Apfelschorle für die schnelle Energiezufuhr und ein paar Kleinigkeiten gegen den Hunger. Aber 800 HM. Das könnte jetzt echt nochmal etwas weh tun.
Nach Benhausen erreichte ich den Paderborner Stadtwald. Jetzt tat sich was, bei den Höhenmetern. Und wie sogar! In Altenbeken fuhr ich unter einem wunderschönen Viadukt hindurch, aber ich hatte nicht den Kopf frei, um ein Foto zu machen. Geschweige denn hier etwas zu genießen! Denn schon knapp hinter Altenbeken zog die Steigung erneut an. Von 185 auf 402 HM sollte die Steigung mich begleiten. Verteilt auf rund 10 km. Junge, ich musste dort echt kämpfen. Ich stellte zudem fest, dass meine kalkulierte Distanz von 150 km nicht reichen würde. Ich sollte also einen Bonus in Form von 10 extra Kilometern erhalten. Gut, damit hätte ich rechnen können. Es gab bisher kaum eine 100 km Tour, in der ich die geplante Distanz auch auf den Kopf getroffen habe.
Die letzten Meter hatte ich dann wirklich hart zu kämpfen. Es wollte und wollte nicht aufhören den ollen Berg hinauf zu gehen. An der Max-und-Moritz-Quelle machte ich nochmal eine kleine Pause. Handyempfang hatte ich hier auch nicht mehr. Also nahm ich Abstand von der Idee, meine Frau zu kontaktieren. Sie war mittlerweile bei meiner Schwiegermutter angekommen und wartete nur noch auf mich. Ich hingegen hatte mittlerweile rund 8 Stunden im Sattel gesessen und war bei km 153. Ich biss nochmal die Zähne zusammen, schaltete einen Gang runter und kämpfte mich Meter für Meter den Berg hinauf.
Dann hatte ich endlich den Gipfel erreicht. Die Aussicht war herrlich. Ich weiß aber nicht genau, welche Aussicht mir besser gefallen hat. Die Aussicht auf die Landschaft, oder die Aussicht auf die nächsten Kilometer, welche nur noch Bergab gehen würden. Die letzten 5 Kilometer ging es jedenfalls nahezu komplett ohne zu trampeln, nur noch runter. Herrlich. Glücklich und zufrieden erreichte ich die Klinik nach 8 Stunden, 43 Minuten, 160,3 Kilometer und lediglich 559 HM. Als Bewegungszeit hatte ich 7 Stunden und 27 Minuten protokolliert.
Doch damit nicht genug. Meine Frau nahm mich in Empfang, wir schlossen mein Bike an und sie führe mich auf die Terrasse, wo meine Schwiegermutter, meine Kinder und ein ordentliches Stück Kuchen bereits auf mich warteten. Der Empfang war so, als hätte ich eben die Tour de France gewonnen. Denn es sprach sich in Windeseile herum, dass meine Schwiegermutter Besuch von ihrer Tochter aus Recklinghausen hat und das ihr Mann die Strecke mit dem Rad fährt. Autogramme musste ich aber keine geben.
Wir hatten noch einen schönen Tag auf der Terrasse und als es Zeit war zu gehen, schnallte ich mein Bike auf den Gepäckträger und wir fuhren über die A44 nach Hause. Am Horizont konnte man teilweise die Bereiche sehen, die ich wenige Stunden zuvor noch mit dem Rad passiert hatte. Ich musste innerlich grinsen als mir bewusst wurde, dass ich heute meine ganz persönlichen Grenzen erreicht und überschritten hatte. Ich bin noch nie so viele Kilometer an einem Stück gefahren und habe noch nie so lange am Stück im Sattel gesessen. Ein kleinwenig stolz war ich ja schon auf mich.
Weiterführende Links:
Hallo Kay, finde deinen Schreibstil klasse! Kann man echt gut lesen und deine Stimme aus den Videos klingt dann im Geiste immer mit.
Erstaunlich wie wenig kommentiert wird, daher schön zu sehen, dass du trotzdem eisern weiter veröffentlichst und Einblicke in dein “Touren-Leben” gewährst.
Danke für Deine netten Worte.